Kinder sind von Beginn an Menschen und daher ohne Einschränkung Träger aller Menschenrechte. Werden der Status des Menschseins, die Menschenwürde und die damit verbundenen Menschenrechte als Maßstab des Vergleichs genommen, sind Kinder den Erwachsenen gleich. Aus dieser Erkenntnis heraus haben wir jüngst die Kinderrechts-konvention ratifiziert und haben uns in unseren Konzeptionen dazu verpflichtet, die Rechte der Kinder zu schützen und zu achten.

Zugleich unterscheiden sich Kinder zweifellos von Erwachsenen; sie sind keine kleinen Erwachsenen. Während sie als „Seiende“ einerseits den erwachsenen Menschen gleich sind, befinden sie sich andererseits als „Werdende“  in einer besonders dynamischen Entwicklungsphase.

Das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern ist asymmetrisch: Erwachsene tragen Verantwortung für Kinder. Das gilt jedoch nicht in umgekehrter Richtung.

Kinder brauchen besonderen Schutz. Sie können zunächst selbst keine Verantwortung für sich und ihr Handeln übernehmen, da sie diese Fähigkeit erst entwickeln müssen. Sie bedürfen der besonderen Förderung und der kindgerechten Beteiligung. Für eine gesunde Entwicklung sind sie auf Erwachsene angewiesen; auf Erwachsene, die Verantwortung dafür übernehmen, dass die Kinder zu ihrem Recht kommen; auf Erwachsene, die die besonderen Bedürfnisse von Kindern kennen und ernst nehmen, sie achten und ihnen mit Respekt begegnen.

Bei der Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kindern und Erwachsenen geht es sowohl um Gleichberechtigung wie auch um Anerkennung von Verschiedenheit. In der Balance von Gleichheit auf der einen und Verschiedenheit auf der anderen Seite liegt die besondere Herausforderung im Umgang der Erwachsenen mit den Kindern.

Dieses Streben nach Balance kennen wir auch in der anthroposophischen Anschauung, in der wir den Ausführungen Rudolf Steiners nach zu wissen glauben: Die Welt an sich befindet sich im Entwicklungsprozess im Sinne von „Erlösung der Schöpfung“. Der Mensch mit seinem jeweiligen Dasein ist zum einen in diesen Entwicklungsprozess eingebunden, gleichzeitig aber ist er aufgerufen, seine eigene Entwicklung zu gestalten und sich selbst-erziehend an der Welten-Entwicklung zu beteiligen.

Auch hier gibt es wieder einen Balance-Akt: Der Mensch entwickelt sich selbst. Er erzieht  sich selbst mit dem Ziel, ein individuelles Mitglied der Gemeinschaft zu werden, um so an der gemeinschaftlichen Aufgabe der Menschheit mit zu arbeiten. Individuelle menschliche Entwicklung kann somit als gemeinschaftlicher Prozess angesehen werden, bei dem es immer um die Abwägung von eigenem Wohl und gemeinschaftlichen Interessen geht.

Dass dieser Prozess als Erwachsener gelingen kann, ist der Auftrag der Pädagogik und des Erziehens. Die Waldorfpädagogik sieht ihre Aufgabe darin, sich den Entwicklungs-notwendigkeiten zuzuwenden. Die Menschenkunde beschreibt uns Entwicklung und Selbstwerdung und gibt Hinweise zur Erziehung des Kindes, aber auch zur Selbsterziehung.

Der Waldorfkindergarten ist der Ort, in dem die Waldorfpädagogik die Aufgabe hat, die Entwicklung der Kinder im ersten Jahrsiebt zu begleiten und hat somit eine besondere Gestaltungaufgabe für die Entwicklung und Erziehung von Menschen übernommen, die sich für diese Pädagogik entscheiden. Dies gilt sowohl für Eltern wie auch für Erzieher.

Diese Gestaltungsaufgabe wirkt in zwei Richtungen und ist wieder ein Balanceakt. Die meisten von uns nehmen ihre Arbeit ohne umfassendes Wissen über die Anthroposophie auf. Daher muss es als eine Grundvoraussetzung angesehen werden, dass wir  Erzieher- und Erzieherinnen die eigene Entwicklung und Selbsterziehung kontinuierlich vorantreiben und damit gleichzeitig auf die Entwicklung der Kinder einzuwirken. Sich dessen bewusst zu werden, ist eine der nachhaltigsten Herausforderung, wenn man als junger Mensch in die Erzieher-Tätigkeit einsteigt. Das Motiv „Vorbild und Nachahmung“ ganz wörtlich genommen weist uns darauf hin; Rudolf Steiner hat wiederholt ausgeführt, wie wir mit unseren Wesensgliedern auf die der Kinder wirken, Gesundheit unterstützen können und welche Auswirkungen „törichte Handlungen“ bis hinein in Organbildungen haben können.

Neben den Kindern gibt es dann noch die Eltern.  Sie kommen oft noch sehr unbedarft zu uns und mit meist wenig Wissen um Waldorfpädagogik. Auch sie sind mit ihren Bedürfnissen und in ihrer Unwissenheit ernst zu nehmen. Im Orientierungsplan sprechen wir von „Erziehungspartnerschaft“ und wir sind aufgerufen, uns einzulassen auf das, was uns von den Eltern entgegenkommt und es als Arbeitsauftrag zu erkennen. Denn auch da tritt etwas ein, womit man umgehen lernen darf: als Erzieher trage ich Anteil an der Entwicklung von mir relativ fremden Menschen, die mir ihre Kinder im Vertrauen übergeben, und die ich mit meinem Dasein beeinflusse – mehr oder weniger bewusst.

Dann kommt da noch ein dritter Aspekt hinzu: wir treten nicht  nur in Wechselwirkung mit der Entwicklung der Kinder und Eltern, sondern auch in Wechselwirkung mit der Entwicklung der Kollegen und Kolleginnen. Arbeiten im Waldorfkindergarten bedeutet in ganz starkem Maße, die Entwicklung des anderen Menschen ernst zu nehmen. Es stellen sich viele Fragen, von denen ich beispielhaft einige aufzählen möchte:

  • Wie ist jeder Einzelne von uns zur Waldorfpädagogik gekommen?
  • Welcher Impuls hat ihn zum Beruf des Erziehers gebracht?
  • Welche inneren Möglichkeiten zur Selbstreflexion und Veränderung sind ihm gegeben?
  • Welche Entwicklungspotentiale und -ziele leitet er daraus ab, die das gesamte Kollegium betreffen, und in die alle involviert sind.

In einem sozialen Organismus, wie in einem Waldorfkindergarten, ist jeder Mitarbeiter mit seiner Entwicklung an der Entwicklung des Gesamtgefüges beteiligt. Das ist eine oft spannende Angelegenheit.

  • Wie fügen sich neue Mitarbeiter ein?
  • Wie verändert sich das Gefüge, wenn einer dazu kommt?
  • Wie verändern wir uns alle, wenn jemand, der viel für Resonanz sorgte, gegangen ist?
  • Was passiert, wenn ein Kind eingeschult wurde, das viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat oder wenn ein neues dazu kommt?
  • Wie binden wir die Eltern im Kindergartenalltag ein, welche Möglichkeiten der Teilhabe bekommen Eltern bei uns?

Dazu kommt noch die Frage nach dem Platz, den die Einrichtung im öffentlichen Leben einnimmt:

  • Wie beteiligen wir uns überhaupt am öffentlichen Leben?
  • Wie informieren wir neue Menschen?

Wie erreichen wir Akzeptanz bei Ämtern, Behörden, Stadt und Gemeinde? Auch da haben wir eine kulturelle Aufgabe, die etwas mit Entwicklung zu tun hat.

Im inneren Bereich unseres Sozialorganismus  können wir uns fragen:

  • Was haben wir für Instrumente, um gut miteinander um zu gehen? Wie geben wir uns gegenseitig Feedback, um uns zu unterstützen in unserer Entwicklung?
  • Sind wir in der Lage, so miteinander zu kommunizieren, wie wir es uns vorgenommen haben in der Konzeption? – offen, wahrhaftig, kommunikativ und lernfähig?
  • Was ist unsere Einrichtung für ein Entwicklungsort?

Der Waldorfkindergarten als Ausbildungsort bezieht sich neben Tages- und Jahres-Praktikanten wie FSJ und BFD vor allem auch auf die PIA-Mitarbeiter und die Anerkennungspraktikanten. Sie stellen eine Besonderheit des kollegialen Miteinanders dar. Dem Ziel, den Waldorfkindergarten als sozialen Organismus zu gestalten tritt ein konkretes Ausbildungsziel hinzu. Im Wortlaut von Qualifikationskatalogen könnte man auch sagen: Ziel der Ausbildung ist, den neuen Mitarbeiter zu befähigen, den Waldorfkindergarten als sozialen Organismus mitgestalten zu können.

In dem Maß, wie die Waldorfkindertagesstätte ein lebendiger Entwicklungs- und Ausbildungsort sein kann, kann er auch als Kulturimpuls wirksam werden. Daran Anteil zu haben, Zukunft mit zu gestalten und bewusst Verantwortung zu übernehmen für meine eigene Entwicklung und für die der anderen macht das Leben aus, kann mal turbulent, mal anstrengend, mal leicht und mal schwer sein – aber es befriedigt ungemein. J

Anne Lang